Bindung hat viele Gesichter

Immer wieder wird gefragt: Wie sehen gute Rahmenbedingungen für eine Familie aus? Eltern stehen heute nahezu unter einem Bindungsdruck: Sie wollen alles richtig machen, sie glauben, alles richtig machen zu müssen. Und über das, was richtig ist, herrschen im Netz und in Familien ganz verschiedene Meinungen: angefangen bei der richtigen Kleidung über die richtige Ernährung bis hin zur Familienform und Frauenerwerbstätigkeit.

Jede Familie geht ihren Weg und sucht Bestätigung für diesen. Tatsächlich gibt es auch für jede Annahme eine passende Studie, die dies genau als richtigen Weg belegen kann: Ob nun vegetarische oder vegane Ernährung gesünder ist oder doch auf jeden Fall Fleisch gegessen werden soll.

Ob ein Kindergarten sich positiv oder negativ auf die Entwicklung auswirkt und welche Bedingungen in die eine oder andere Richtung führen. Als Eltern können wir uns in alle Richtungen belesen und haben nicht selten auch das Gefühl, genau dies tun zu müssen. Selbstoptimierte Elternschaft, die aufgrund ihrer Komplexität an Themen einem Fachhochschulstudium zu ähneln scheint.

Eigentlich geht es um Feinfühligkeit

Doch auch wenn dies alles wichtige Aspekte sind und wir unsere verschiedenen Lebensbereiche in den Blick nehmen sollten von Konsumverhalten über Ernährung und Bewegung bis zu Arbeitsbedingungen, können wir auch in Hinblick auf den Druck der Elternschaft ein wenig Luft heraus lassen. Denn auch wenn wir durch viele Aspekte rund um unseren Alltag Einfluss nehmen auf die Bindung und sich Alltagsentscheidungen auf die Beziehung auswirken können, geht es in Bezug auf die Bindung erst einmal um eines: das Kind verstehen und feinfühlig begleiten.

Um die Auswirkungen der Rahmenbedingungen auf die Bindung zu illustrieren, eignet sich das Beispiel des Schlafens gut: Wir können das Baby im Familienbett schlafen lassen, in einem Beistellbett neben uns oder in einem Babybett im Elternschlafzimmer (von einem Bett in einem anderen Raum wird zur Prophylaxe des Plötzlichen Kindstods abgeraten). Jede Familie entscheidet, welcher Schlafort für sie individuell richtig ist anhand der Bedürfnisse der beteiligten Personen (wie gut schlafen alle mit Körperkontakt, wie geräuschempfindlich sind alle).

Das Familienbett ist oft praktisch, weil die Babybedürfnisse schnell erkannt werden und darauf reagiert werden kann: Eltern müssen nicht unbedingt aufstehen, um das Baby zu versorgen und finden selbst schneller wieder in den Schlaf. Aber vielleicht ist es für sie auch in Ordnung und angenehmer, nachts aufzustehen und an das Babybett zu gehen. Wichtig ist dabei, dass die Bedürfnisse gehört, erkannt und befriedigt werden. Aber der Schlafort an sich ist kein Garant für eine sichere Bindung.

Unterschiedliche Bedürfnisse im Familienleben

Auch die Benutzung von Windeln wird häufig mit bindungsorientierter Elternschaft in Verbindung gebracht: Babys geben Signale, wenn sie ausscheiden müssen und Eltern können darauf reagieren und das Baby abhalten. Sie können aber auch Windeln nutzen und dann das Baby säubern, wenn es eine volle Windel hat. Bei Stoffwindeln zeigen die Kinder oft schneller an, dass sie sich unbequem fühlen und frisch bekleidet werden wollen. Auch haben die unter Umständen eine bessere Ökobilanz und dies wirkt sich wiederum auf Ressourcen und unsere Gesellschaft aus. Aber prinzipiell hat die Entscheidung, ob windelfrei gelebt wird oder Stoffwindeln oder Wegwerfwindeln genutzt werden, für die einzelne Familie nicht notwendigerweise einen Einfluss auf die Bindung in dieser Familie.

Es geht auch hier um Bedürfnisse, die erkannt werden wollen: Hat das Baby in die Windel gemacht oder ein Ausscheidungsbedürfnis und reagiere ich darauf. Alle anderen Faktoren drum herum entscheidet jede Familie für sich, ganz nach Machbarkeit, Vorlieben und auch finanziellen Möglichkeiten. Aber auch hier gilt: Stoffwindeln oder windelfrei sind nicht per se ein Garant für eine sichere Bindung, auch wenn sie häufig mit dem Lebensstil der bindungsorientierten Eltern in Verbindung gebracht werden.

Bedürfnisse können ganz unterschiedlich befriedigt werden und jede Familie bringt auch unterschiedliche Bedürfnisse in das Familienleben ein. Unsere Elternbedürfnisse ergeben sich aus dem, wie wir selbst bisher gelebt haben, wie wir sozialisiert wurden, welche Rahmenbedingungen in unserer Familie vorherrschen, wie unsere Einkommensverhältnisse sind und ob wir alleine erziehen oder nicht. Und darauf ausgerichtet gestalten wir das Familienleben mit unseren Kindern. Wir gehen mit dem um, was wir haben und wie wir leben. So geht jede Familie vielleicht einen etwas anderen Weg, ohne dass dieser Weg, weil er anders ist, schlechter sein muss.

Was wirklich wichtig ist

Welche Familienform auch immer: ob allein erziehend, als heteronormatives Paar, in einer Regenbogenfamilie lebend. Ob mit Biokleidung oder ohne. Was wirklich wichtig ist, ist die Beziehung, die wir in unserem individuellen Rahmen gestalten. Wichtig ist, wie wir mit Bedürfnissen umgehen: Ob wir unsere eigenen und die des Kindes wahrnehmen und versuchen, sie mit den Möglichkeiten, die wir haben, zu beantworten. Es gibt nicht den einen richtigen Weg für alle. Oder, noch genauer: Unsere Wege sollten sogar unterschiedlich sein, wenn wir an die Bedürfnisse denken und sie individuell befriedigen wollen.

Deswegen sollten wir uns nicht unter Druck setzen lassen von den Wegen anderer. Was andere für ihre Bindung tun, muss nicht unser Weg sein. Aber wir sollten Toleranz mitbringen und Akzeptanz auch für die anderen Wege. Bindung hat viele Gesichter, Bindung ist ein Regenbogen der Möglichkeiten.

Susanne Mierau ist Kleinkindpädagogin, Familienbegleiterin, Heilpraktikerin und Buchautorin. Die Mutter von drei Kindern bloggt seit 2012 auf geborgen-wachsen.de über das bindungsorientierte Familienleben.

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Kommentare

Eine Antwort zu „Bindung hat viele Gesichter“

  1. A
    Anna

    Ein sehr guter Text, vielen Dank. Unsere Tochter hat von Geburt an in Beistellbett geschlafen und durfte, wann immer sie wollte zu uns ins Bett. Sie wollte aber immer nur um Kuscheln rein und nicht zum Schlafen. Mittlerweile ist sie vier und seit ca. einem halben Jahr möchte sie nun fast jede Nacht bei uns im Bett schlafen. Selbstverständlich darf sie das und wir finden es alle gemütlich, aber vorher wollte sie es eben nicht und daher „durfte“ sie natürlich immer im eigenen Bettchen schlafen. So unterschiedlich sind eben die Bedürfnisse jedes Kindes. LG Anna

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