Eigene Kinder ersetzen keine berufliche Praxis – auch nicht für Hebammen

Ich erinnere mich noch sehr gut, wie nach meinem Examen eine erfahrene Kollegin zu uns frisch gebackenen Hebammen sagte: „Jetzt geht das Lernen erst richtig los“. Wirklich?! Dabei hatten wir doch seit Jahren nichts anderes getan. Und gefühlt war ich doch jetzt bei den Examensprüfungen auf dem Höchststand meines Wissens. Jedes kleinste theoretische Detail konnte ich herunterbeten.

Aber natürlich hatte diese erfahrene Kollegin recht. Denn wie in jedem Beruf geht das Lernen vor allem mit der beruflichen Praxis einher. Und ich lernte und lerne jeden Tag weiter. Mit jeder Frau, die ich manchmal kurz und manchmal lang auf ihrem Weg begleiten durfte. Irgendwann kamen dann eigene Kinder und eigene Erfahrungen mit dem Mutterwerden und dem Muttersein hinzu. Vier Kinder, ein Sternenkind. Über 170 Wochen Schwangerschaft, etliche Wehenstunden, gut acht Monate Wochenbett und über zehn Jahre Stillzeit. So viel Erfahrung – und doch wieder auch nicht.

Denn diese ganzen Erfahrungen haben ich ja immer nur in meinem kleinen, ganz persönlichen Mikrokosmos gemacht. Und zahlreiche Erfahrungen habe ich auch einfach nicht persönlich gemacht, wofür ich zum Teil sehr dankbar bin. Denn die Schattenseiten des Hebammenberufs sind umso härter. Noch heute habe ich über fünfzehn Jahre alte Bilder von dramatischen oder extrem traurigen Situationen im Kopf, die ich miterlebte. Denn nicht nur die Begleitung des Lebensanfang, sondern auch die des Lebensende, gehört häufiger in das Aufgabengebiet von Hebammen als oft angenommen wird.

Schon „alles“ gesehen und gehört?

Wirklich viel gelernt über die Lebensphase, in der Frauen zu Müttern werden, habe ich also von den Frauen und Familien, die ich seit bald 20 Jahren auf diesem Weg begleiten darf. Die Bandbreite an Lebensgeschichten, Wegen und Emotionen hätte ich ohne meine Hebammenarbeit nie kennengelernt. Selbst wenn man oft denkt, schon „alles“ gesehen und gehört zu haben, kommen immer wieder neue Menschen und Situationen dazu. Und ich lerne wieder dazu.

Ich lerne natürlich auch vom fachlichen Austausch mit Kolleginnen, die wieder andere besondere Situationen erlebt haben. Es kommen neue Impulse hinzu, ich verändere auch immer wieder meine Arbeitsweise. Fachbücher, Hebammenzeitschriften sowie Fort- und Weiterbildungen erweitern beständig das theoretische Wissen. Auch da ändert sich manches und neues kommt hinzu. Die Hebamme, die die eingangs geschriebenen Worte sagte, hatte so recht.

Ich hab auch durch meine eigene Mutterrolle viel gelernt. Gelernt, was es bedeutet, selbst eine Mutter zu sein und eine Familie zu haben. Natürlich fließt das auch in meine tägliche Arbeit mit ein. Aber eine erfahrenere Hebamme bin ich dadurch sicherlich nicht. Letztlich muss man sogar immer sehr gut aufpassen, dass die eigenen Erfahrungen nicht zum Maßstab werden und den Blick aufs große Ganze trüben. Mit jeder begleiteten Familie indes erweitert sich der Blick über den Tellerrand. Und ich lerne wieder etwas dazu.

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