Schlüsselmoment

Da stehe ich also, im leer geräumten Ferienhaus und versuche, meine innere Mitte zu finden. Diesen Ort der unbedingten Ruhe und Geborgenheit, den man als liebender Vater haben sollte. Manchmal nur, da muss man ihn finden. Und manchmal ist die Suche keine einfache.

Während ich langsam in mich hineinatme, sinken die Worte ebenso gemächlich aus ihren Schallwellen in mein Bewusstsein. „Ich habe ihn gar nicht richtig gespürt“. Ja, nee, klar, verstehe ich, denke ich. Innerlich allerdings schreie ich, mittlerweile sitzend, laut durchs Haus. Rein äußerlich sitze ich da, schaue aus dem Fenster auf die Nordsee und sehe hoffentlich so aus, als ob ich einfach nochmal meditieren will, weil gleich sechs Stunden Autofahrt vor mir liegen. Das Ende weit nach Mitternacht. Und niemand so genau weiß, wie toll das kleine Mädchen es findet, so lange in ihrem Sitz angeschnallt zu sein.

Eigentlich wollten wir locker losfahren, so gegen 17.30 Uhr. Schnell auf die Fanø-Fähre (die zum Glück knapp alle 20 Minuten fährt) und dann Richtung Flensburg, Hamburg und irgendwann ab in Richtung Osten nach Hause nach Berlin. Kurz vor der Bundesgrenze würde sie langsam in den Schlaf finden und wir irgendwann kurz nach 23 Uhr entspannt ankommen.

Überall Fehlanzeige: kein Haustürschlüssel

Das Auto ist komplett gepackt, Kofferraum- und Dachbox-Tetris erfolgreich gespielt. Dann fällt mir auf, dass der Haustürschlüssel der Berliner Wohnung weg ist. Also schnell hektisch das Auto durchsucht, kurz einen Stressanfall bekommen und dann doch schnell gefunden. Puh, zum Glück. Jetzt aber mal los! Eben noch das Haus abschließen und den Schlüssel beim Büro des Vermieters in den Briefkasten werfen.

Nun… wo ist eigentlich dieser Schlüssel? Gerade eben habe ich ihn noch gesehen. In der Küche. Ich gehe ins Haus. Kein Schlüssel in der Küche. Und auch in keinem der anderen Zimmer. Zurück am Auto, in dem alle bereits angeschnallt und abfahrbereit sitzen, bitte ich Anja und die Kinder, ihre Taschen zu durchsuchen. Und die Rucksäcke. Überall Fehlanzeige: kein Haustürschlüssel. Anja sagt, er könne vielleicht in ihrer Jacke sein. Klar, ich gucke schnell: „Wo ist die denn?“ Klar, in der Tasche in der Dachbox. Natürlich.

Ich räume also den Kinderwagen wieder raus, dann die Tasche und alle Jacken. Fünf Minuten später auch hier die Erkenntnis: kein Schlüssel. Ich werde langsam etwas hektisch. Anja faselt etwas davon, dass in der Küche noch der Biomüll stand und die geliehene Bettwäsche und Handtücher. Während ich den Müllsack in die Tonne kippe, hoffe ich innerlich, dass der Schlüssel hier nicht ist. Was sich wenigstens als korrekt erweist.

Ich packe im Geiste das Auto komplett aus

Die Kinder ernsthaft zu befragen, wo der Schlüssel sein könnte, ist derweil absolut vollständig sinnlos. Ein Kind ergeht sich in detailliertesten Konjunktiv-Beschreibungen, wer wo wie zuletzt den Schlüssel gehabt haben könnte. Das andere Kind liest einen Comic. Die Größte spielt mit der Kleinsten, immerhin. Anja robbt derweil auf Höhe des Kleinkindes durch das Ferienhaus. Ihr verzweifeltes Ziel: herauszufinden, wo so ein Schlüssel wohl von einem Kleinkind (derzeit Verdächtige Nummer eins) versteckt worden sein könnte. Konjunktiv halt.

Es bringt alles nichts. Kein Schlüssel. Nirgendwo. Mittlerweile sind rund 45 Minuten vergangen. Was heißt, dass wir definitiv nach Mitternacht ankommen werden. Wenn wir denn den Schlüssel finden. Ich packe im Geiste das Auto komplett aus, während Anja in den Innenraum hinein die hilflose Ansage macht, dass derjenige einen Rieseneis bekommt, der den Schlüssel findet. Daraufhin lässt der Sohn seinen Comic fallen und sagt motiviert, dass er nun aussteige, um suchen zu helfen.

Er geht tiefenentspannt trödelnd zum Ferienhaus, in dem ich sitze, um plötzlich erfreut festzustellen: „Krieg ich jetzt ein Eis“, während er mit dem Schlüssel wedelt, den er offenkundig aus seiner Jackentasche gezogen hat. Anja läuft an ihm vorbei zu mir ins Haus und ruft, dass der Schlüssel da ist. „Ich habe ihn gar nicht richtig gespürt in meiner Tasche“, habe der Finder gesagt. Der jetzt natürlich ein Rieseneis will. Atmen, Christian, atmen. Einfach nur atmen.

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Kommentare

2 Antworten zu „Schlüsselmoment“

  1. M
    Manuela

    Diese Geschichte erweckt in mir Erinnerungen. Wir, zu fünft vor unserem Ferienhaus in Italien, den Schlüssel suchend. Noch die letzten Minuten des Tages am Strand verbracht, um dann glücklich und zufrieden zu duschen und sich freudig auf den Weg zum Strandrestaurant zu machen. Daraus wurde leider nichts, den der Schlüssel war verschwunden. Und nach langem Überlegen und Fotos (auf dem Handy) anschauen, stand fest, unser Jüngster (fast 2 Jahre), hat diesen im Meer versenkt. Zum Glück könnten wir (nach vielem rumtelefonieren) noch einen Schlüssel von der Hausverwalterin organisieren, allerdings gab es nur einen Tresorschlüssel-und der war im Meer. Was dann kam, war alles andere als schön. Der Tresor müsste aus der Mauer (er war eingemauert) geschlagen werden, aufgeschweisst werden (unser Geld und Pässe waren drin), ein neuer besorgt werden uns wieder eingemauert werden.
    Ich war fix und fertig. Erholt war ich eh nicht-aber da war ich nah am Nervenzusammenbruch. Leben mit Kindern halt….

  2. S
    Stefanie

    Sehr gut geschrieben! Unsere Große ist erst zweieinhalb und unsere Kleine 3 Monate, aber wenn ich solche Geschichten lese, bekomme ich – nolens volens – eine Vorstellung davon, was uns noch blüht! Nur gut, dass der Schlüssel noch aufgetaucht ist.

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