Silke Bauerfeind schreibt auf ihrem Blog und in Buchform über das Leben mit Autismus. Ihr Sohn ist frühkindlicher Autist. Ich habe ihr Buch „Ein Kind mit Autismus zu begleiten, ist auch eine Reise zu sich selbst“ gelesen und durfte ihr nun einige Fragen stellen.
Liebe Silke, bitte stell dich vor.
Ich bin Silke, 48 Jahre jung und verheiratet. Meine Tochter ist bereits 23-jährige Studentin und mein 18-jähriger Sohn ist Autist. Er spricht nicht, daher kommunizieren wir per Gebärdensprache. Wir leben in der Nähe von Nürnberg. Studiert habe ich Kulturwissenschaften mit den Fächern Literaturwissenschaft, Philosophie und Geschichte.
Hattest du vor der Geburt deines Sohnes schon Berührungspunkte mit dem Thema Autismus? Was wusstest Du darüber?
Nein, vor der Geburt von Niklas wusste ich überhaupt nichts über Autismus. Ich bin aber sicher, wenn ich mit meinem jetzigen Wissen zurückblicke, dass mir auch zuvor in meinem Leben bereits Autisten begegnet waren, ohne dass mir das bewusst war.
Meine neunjährige Tochter fragte mich beim Lesen deines Buches: „Mama, was genau ist eigentlich Autismus? Ist das eine Krankheit?“. Welche Antwort würdest Du ihr geben?
Ich würde ihr sagen, dass Autismus keine Krankheit ist, sondern eine andere Art die Welt wahrzunehmen. Das bedeutet – verkürzt gesagt – dass Informationen anders aufgenommen und verarbeitet werden. Ohren, Nase, Mund, Augen und die Haut bekommen viele Informationen über den ganzen Tag, die das Gehirn dann verarbeiten muss. Bei Autisten kommt viel mehr von diesen Informationen im Gehirn an als bei anderen Menschen, weshalb sie dann manchmal von den vielen Eindrücken überflutet werden.
Das Gehirn verarbeitet die Informationen auch anders und das führt dann dazu, dass sich Autisten manchmal sichtbar anders verhalten als wir das normalerweise kennen, dass sie anders sprechen, sich anders bewegen und auch besondere Talente, Abneigungen und Vorlieben entwickeln. Was Autismus ist, habe ich für Kinder und Jugendliche übrigens in einem Beitrag auf dem Portal „Helles Köpfchen“ ausführlich erklärt.
Wann hat dein Kind die Diagnose „frühkindlicher Autismus“ bekommen? Wie verlief euer Weg bis dahin?
Die Diagnose bekam Niklas als er sechs Jahre alt war. Wenn er heute nochmal klein wäre, würde er sie vermutlich viel früher bekommen. Er war von Anfang an in seiner Entwicklung auffällig, sehr berührungs- und geräuschempfindlich und konnte erst mit fünf Jahren laufen. Er begann nie zu sprechen und fing mit vier Jahren selbst an, sich Gebärden auszudenken. Wegen seiner Entwicklungsauffälligkeiten wurden in den ersten Jahren viele genetische Syndrome getestet und ausgeschlossen. Schließlich bekam er vor knapp zwölf Jahren die Diagnose „frühkindlicher Autismus + ADHS“ – heute spricht man von einem Autismus-Spektrum, in dem er eine schwere Ausprägung bescheinigt bekommen würde.
Wie und ab wann frühestens wird frühkindlicher Autismus diagnostiziert? Als Hebamme habe ich schon Eltern begleitet, die bei Symptomen ihres Babys Überlegungen in diese Richtung hatten. Der Kinderarzt fand das alles nicht so auffällig. Die Verunsicherung blieb jedoch. Wo könnten Eltern sich noch hinwenden?
Je nach Ausprägung des Autismus kann man eine Diagnose inzwischen schon mit etwa zwei bis drei Jahren stellen. Manche sind der Meinung, dass es sogar noch früher möglich ist. Ich denke, dass man vorsichtig sein sollte, da einzelne Symptome nicht sofort eine Autismus-Diagnose rechtfertigen. Es ist gut, sein Kind aufmerksam zu beobachten, zu begleiten und einen Arzt zu fragen, wenn man sich Sorgen macht.
Über auf Autismus spezialisierte Sprechstunden in Krankenhäusern oder über Fachärzte, die darauf spezialisiert sind, kann man sich in Autismus-Kompetenzzentren informieren. Die Versorgungsdichte, was Diagnostik und Therapie angeht, ist regional quantitativ und qualitativ sehr unterschiedlich. Es gibt tolle Ärzte und Therapeuten, aber leider auch immer noch deren KollegInnen, die mit alten Klischees behaftet sind.
Es ist generell immer ratsam, sich alternative Meinungen einzuholen. Gut ist es sicherlich auch, sich an andere Eltern mit autistischen Kindern zu wenden, von dort bekommt man sehr authentische Informationen und Hilfestellungen zu einem Familienleben mit Autismus. Vor allem wenn man etwas über die besondere Wahrnehmung von Autistinnen und Autisten und über Strategien, im Alltag zurechtzukommen, erfahren möchte, ist es sehr empfehlenswert, Autistinnen und Autisten direkt zu fragen.
Für dein Buch hast du die Erfahrungen vieler Eltern gesammelt. Was sind deiner Meinung nach die größten Herausforderungen im Alltag mit einem Kind mit Autismus?
Viele Eltern sind damit konfrontiert, ihr Kind und die Diagnose ständig rechtfertigen zu müssen. Diagnosen werden mit Sätzen wie „Ach mein Kind macht das doch auch“ oder „Du musst einfach nur strenger sein, dann gibt sich das“ angezweifelt. Vielen Eltern wird auch vorgeworfen, dass sie ihr Kind nur schlecht erziehen würden. Diese Vorwürfe verletzen und belasten zusätzlich zum Alltag, der sowieso schon etliche Herausforderungen bereithält.
Schwierig wird es auch, wenn Kindergärten und Schulen dem autistischen Kind nicht ausreichend mit angepassten Rahmenbedingungen entgegenkommen. „Nicht jeder kann eine Extrawurst bekommen“ oder „das muss er oder sie aber jetzt auch so können“ helfen nicht weiter und erschweren die Inklusion vieler autistischer Kinder und Jugendlicher. Die Suche nach einem geeigneten Kindergarten und einer Schule, in der Kinder mit einer Autismus-Diagnose angemessen gefördert werden, ist für viele Familien ein Spießroutenlauf mit vielen gescheiterten Versuchen. Manche Kinder bleiben monatelang als angeblich „unbeschulbar“ zuhause, weil niemand einen Platz für sie hat. Das stärkt weder das Selbstbewusstsein und eine gesunde Entwicklung der Kinder noch das Nervenkostüm der Eltern, die oftmals ihren Beruf aufgeben müssen.
Von der Öffentlichkeit wünschen sich Eltern, dass sie nicht verurteilt werden, dass nicht gegafft wird, wenn ihre Kinder sich „anders“ verhalten und dass gerne auch gefragt wird, ob man helfen kann. Das waren nur einige herausgepickte Herausforderungen, natürlich gäbe es noch mehr zu erzählen.
Dein Buch trägt den Titel „Ein Kind mit Autismus zu begleiten, ist auch eine Reise zu sich selbst“. Was hast du für dich auf dieser Reise gelernt?
Hui, was für eine Frage – der ich ja ein ganzes Buch gewidmet habe. Zusammengefasst würde ich sagen, das Niklas mir meine Grenzen aufgezeigt hat, aber mir auch gezeigt hat, welche Wege es gibt, die ich vorher nicht sehen konnte. Er hat mich genötigt, geduldiger zu werden, die kleinen, wertvollen Dinge im Leben zu sehen, dankbar für vieles vermeintlich Selbstverständliche zu sein. Er hat mich aber auch emotional labiler gemacht, gleichzeitig zu einer Kämpferin. Durch ihn durfte ich Gebärdensprache lernen, ganz tolle Menschen kennenlernen, die mein Denken oft bewegten und veränderten. Er hat mit mir Menschen aus unserem Leben verabschiedet, die keinen Platz mehr darin hatten. Und er lebt mir eine ganz neue Art von Humor vor. Niemals würde ich all das missen wollen.
Wer oder auch was unterstützt dich oder euch als Eltern in Eurem besonderen Alltag? Wie sammelst du Kraft?
Die meiste Kraft bekomme ich durch meine Familie. Mein Mann und ich halten fest zusammen, gehen durch Höhen und Tiefen aller Art, meine Tochter bereichert mein Leben auf so wertvolle und liebevolle Art und Weise, dass es mir unglaublich viel Kraft gibt. Außerdem haben wir Omas und Opas und meine Schwester mit ihrer Familie vor Ort. Auch gibt es junge Menschen, die Niklas stundenweise in ihrer Freizeit betreuen, denen wir sehr dankbar für ihre liebevolle Begleitung sind.
Ellas Blog gibt mir auch sehr viel Kraft. So anstrengend die Bloggerei und alles, was daran hängt, manchmal sein kann, so viel mehr bekomme ich von meinen Leserinnen und Lesern zurück. Sie schreiben mir von Freud und Leid und bauen mich auf, wenn in meinen Beiträgen zu erkennen ist, dass es gerade nicht so gut läuft. Genauso wie sie mir oft schreiben, dass sie sich wegen des Blogs nicht mehr so alleine fühlen, geht es auch umgekehrt mir so, dass ich mich nicht mehr so alleine fühle, wenn ich von meinen Leserinnen und Lesern höre. Nicht zuletzt zeigt mir Niklas auf seine ganz spezielle Art und Weise, wie sehr er mich und seine Familie liebt – und das gibt sehr viel Kraft.
Wenn man „Autismus Erfahrungen“ googelt, kommt man sofort auch zu deiner Webseite, die somit eine wichtige Anlaufstelle für Eltern autistischer Kinder, aber sicherlich auch für Angehörige oder interessiertes Fachpersonal ist. Erzähl doch ein bisschen darüber.
Vor knapp fünf Jahren war ich im Netz auf der Suche nach Erfahrungswerten zum Thema Autismus. Es gab zwar einiges über Autismus zu lesen, aber ich vermisste Berichte und Tipps von Eltern, die ein Kind mit einer autistischen Ausprägung haben, die ähnlich der meines Sohnes ist. Also fing ich selbst an zu bloggen und hatte schnell viele Leser, die wohl auch auf der Suche gewesen waren. Anfangs schrieb ich über persönliche Erfahrungen. Inzwischen ist Ellas Blog zu einem Online-Magazin geworden, in dem zum Beispiel Interviews mit Fachleuten, Gastbeiträge andere Eltern und Erfahrungsberichte von Autistinnen und Autisten ihren festen Platz haben. Die Vielfalt der Perspektiven ermöglicht es meiner Meinung nach erst, eine realistische Vorstellung dessen zu bekommen, was Autismus bedeutet.
Einige Jahre war ich mit Ellas Blog auch auf Lesereisen und konnte meine Leserinnen und Leser persönlich kennenlernen, das war eine tolle, aber auch anstrengende Zeit. Diese Aktivitäten kann ich momentan nicht mehr durchführen, weil es die Familie zu sehr belastet und ich an meine Grenzen gekommen bin. Aber – wenn ich das noch hier sagen darf – ich habe die Vision, ein noch breiteres Online-Angebot aufzubauen. Ich möchte Online-Lesungen und Kurse anbieten, damit die Eltern, die dasselbe Problem haben wie ich, nämlich zuhause wegen Pflege und Aufsicht ihrer Kinder unabkömmlich zu sein und keine Auswärtstermine zuverlässig wahrnehmen zu können – an diesen Angeboten teilhaben können.
In Arbeit ist auch das zweite Buch zum Blog. Ich hoffe, dass es spätestens im Herbst erhältlich sein wird. Ich denke, es ist sehr wichtig aufzuklären, denn nur aufgeklärte Menschen haben keine Vorurteile und Ängste mehr, die zu Ausgrenzung und Stigmatisierung führen. Herzlichen Dank, dass ich einen kleinen Teil hier auf Deinem Blog dazu anbringen durfte.
Schreibe einen Kommentar