Ansichten einer Kiezhebamme

Am Freitag musste ich für einen kleinen Einkauf beim Möbelschweden den Prenzlauer Berg kurz verlassen, um ins angrenzende Lichtenberg zu fahren – mit dem Auto. Die Strecke ist knappe acht Kilometer lang und hat mich auf dem Hinweg „nur“ 38 Minuten gekostet. Auf der Rückfahrt hatte ich aber ein echtes Déjà-vu, denn es handelt sich zum Teil um die Strecke, die ich früher zur Klinik fuhr, in der ich als Hebamme arbeitete. Und damit auch jene Strecke zu den dort im Umkreis wohnenden Müttern zum Hausbesuch.

Von Fahren kann aber je nach Tageszeit meist gar nicht die Rede sein. Denn in Berlin wird besonders gerne monatelang gebaut. So dass vermeintlich sechsspurige Straßen schnell mal einspurig werden. Und dann steht man da und bewegt sich gar nicht oder maximal in Zeitlupe weiter. So brauchte ich für die Rückfahrt satte 55 Minuten, da auch noch eine Ampel ausgefallen war. Da ich das Auto innerhalb Berlins mittlerweile relativ selten nutze, konnte ich das Ganze so halbwegs gelassen sehen. Meistens fahre ich mit dem Rad. Der öffentliche Nahverkehr hat hier auch so seine Tücken, aber Fahrrad ist eigentlich immer eine gute Option.

Fahrradradius oder Fußnähe

Warum ich das nun alles schreibe? Weil ich neulich eine Diskussion mitbekam, in der es darum ging, dass die Mütter in manchen Bezirken von München nahezu gar keine Hebammen mehr finden. Die im Rahmen der Hebammensuche angerufenen Kolleginnen würden als erstes nach dem Stadtteil fragen. Dann würden sie trotz (unwahrscheinlicherweise) noch freien Kapazitäten sofort absagen, wenn dieser Stadtteil zu weit entfernt oder auch in einer Gegend ohne Parkplätze liegt. Die gleichen Geschichten hört man auch aus Frankfurt, Berlin oder Stuttgart.

Nun könnte man ja als Schwangere auf Hebammensuche schnell denken, was sich diese Hebammen wohl einbilden, wenn sie sich scheinbar nur noch die Rosinchen in Fußnähe herauspicken. Und ja, ich bin auch so eine Rosinenpickerin und nehme in der Regel nur noch Frauen im Fahrradradius an, im Winter sogar am liebsten in Fußnähe, falls die Radwege vereist sind und die BVG wie immer wieder mit dem Berliner Winter überfordert ist.

Die Jahre im Auto

Ich habe nämlich bereits gefühlte Jahre für die Hebammerei im Auto verbracht, als ich noch nahezu in alle Richtungen, auch häufig sogar über die Landesgrenze nach Brandenburg gefahren bin. Allerdings müssen es wie eingangs beschrieben in Berlin gar keine großen Strecken sein, die wahnsinnig viel Zeit fressen. Die kurzen, aber zeitaufwendigen Strecken sind nämlich sogar das noch größere Dilemma. Denn wenn ich für meine fünf Kilometer 50 Minuten unterwegs bin, bekomme ich ganze 3,30 Euro Brutto dafür von der Krankenkasse. Damit sind in deren Welt nämlich sämtliche Kosten für das Auto, Benzin und auch für den zeitlichen Aufwand abgegolten. Parkgebühren, die in Berlin ja auch nicht gerade günstig sind, müssen unter Umständen auch noch davon bezahlt werden. Man sieht schnell, dass diese Rechnung gar nicht aufgehen kann.

Wenn die zu besuchende Frau dann mal nicht aufmacht, weil sie im Wochenbett die Klingel und das Telefon ausgestellt hat, darf ich nicht mal diese Peanuts abrechnen, weil die Anfahrt nur bezahlt wird, wenn damit verbunden eine abrechnungsfähige Leistung erbracht wurde. Das Wegegeld ist also die mit Abstand mieseste Vergütungsposition.

Fahrtzeit ist unbezahlte Arbeitszeit

Während die Kollegin auf dem Land sich vielleicht manchmal noch ihre oft stundenlange Rumkutscherei dadurch schönredet, dass die Fahrt durch blühende Landschaften entspannt, hat die Stadtkollegin nicht mal diesen Nebeneffekt, wenn sie gerade wieder an irgendeiner Baustelle im Stau steht. Die Schlitterpartien, die Landhebammen im Winter auf sich nehmen müssen, sind allerdings oft auch alles andere als schön und bisweilen nicht ungefährlich. Das Rumfahrdilemma betrifft natürlich auch viele andere Berufe, doch der Handwerker kann sich seine Wege dann doch etwas kostendeckender bezahlen lassen.

Ich habe also wirklich viel Zeit für den Hebammenjob im Auto verbracht. Irgendwann konnte ich aber nicht einen einzigen Radiosender mehr ertragen und mit dem Zwischenstopp in irgendeinem Fastfood-Drive-In war mein persönlicher Tiefpunkt als autofahrende Hebamme erreicht. Es blieb oft nicht mal mehr Zeit zum Essen, wenn man von Hausbesuch zu Hausbesuch hetzte und die Fahrtzeiten mal wieder den Hauptteil der Arbeitszeit ausmachten. Damals habe ich beschlossen, nur noch Betreuungen in Fahrradnähe anzunehmen. Die Nachfrage nach Hebammenbetreuung ist hier seit Jahren mehr als reichlich, so dass man sich als Hebamme tatsächlich aussuchen kann, wohin man fährt oder auch nicht.

Natürlich könnte man auch weitere Strecken in Berlin mit dem Rad fahren, so wie eine Kollegin von mir, die zehn und mehr Kilometer einfache Strecke für einen Hausbesuch durch Berlin radelt. Doch das wäre keine Option für mich, selbst wenn man so zwar bisweilen schneller vorankommt, riskiert man hier auf manchen Straßen regelmäßig sein Leben. Nein, ich möchte nicht mit dem Rennrad durch die City brausen, sondern ohne Zeitdruck und sicher mit meinem Hollandrad durch den Kiez radeln und dann halbwegs entspannt – ohne zeitaufwendige Parkplatzsuche – bei den Eltern ankommen. Und das in dem angekündigten Zeitrahmen.

Immer weniger Hebammen

Es gibt viele Mütter und immer weniger freiberufliche Hebammen in Berlin und in München und in Frankfurt und eigentlich überall. Die Nachfrage übersteigt bei allen Kolleginnen das Angebot. Deshalb ist es einfach, tatsächlich ausschließlich in seinem Kiez zu arbeiten. Das ist natürlich richtig doof für Frauen, die in einer Gegend mit geringerer Hebammendichte wohnen. Doch wenn ich die Fahrtzeiten kurz halte, kann ich mehr Betreuungen annehmen. Und das ist nicht nur wirtschaftlich für die Hebamme sinnvoller, sondern vor allem nötig in Zeiten stetig steigender Berufsnebenkosten wie eben die für die Berufshaftpflichtversicherung.

Wenn ich also zwei Frauen in der Nähe statt einer Frau plus langer Anfahrt annehme, dauert es vielleicht noch ein paar Jahre länger, bis die Versorgung – pessimistisch gedacht – ganz zusammen bricht. Denn so kann ich doppelt so viele Familien begleiten. Nicht mehr und nicht weniger steckt dahinter, dass in manchen Stadtteilen oder Gegenden die Hebammensuche noch schwieriger ist als ohnehin schon. Doch auf eine angemessene Vergütung der tatsächlichen Anfahrtszeit werden wir wohl ewig warten, wenn momentan nicht mal die tatsächlichen Kosten für Auto, Benzin und Parkgebühren erstattet werden. Deshalb bin ich nach wie vor lieber mit dem Fahrrad unterwegs. Als Taxifahrer arbeiten können wir Hebammen dann ja spätestens noch, wenn wir „endlich erfolgreich ganz abgeschafft wurden“

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Kommentare

3 Antworten zu „Ansichten einer Kiezhebamme“

  1. A
    Anja

    Liebe SteffI,

    wie gut, dass Deine Hebamme das zeitlich und finanziell leisten konnte. Es ist aber keine Frage bezüglich “ hipper. Stadtteile“, denn zum Beispiel ist es gerade in Berlin Mitte eng, was auch an der katastrophalen Parksituation liegt. Die Kollegin aus dem “ unhippen“ Zehlendorf oder aus Reinickendorf fährt aus genau den gleichen Gründen nicht nach Prenzlauer Berg. Auch meine Freundin, die Landhebamme ist, muss immer genau schauen, was fahrtechnisch noch machbar ist. Leider ist die Fahrerei unbezahlte Arbeitszeit, in der die Hebamme nichts verdient. Viele Kolleginnen können sich das einfach nicht leisten. Eine großes Dilemma für Mütter UND Hebammen!! Liebe Grüße, Anja

  2. S
    Steffi

    Ich hab zum Glück eine Hebamme gefunden, die das auf sich genommen hat… Ich hätte sonst ganz schön blöd dagestanden – und das nur weil ich es mir nicht leisten kann, in einem hippen Stadtteil zu wohnen…

    1. W
      wolldrache

      Liebe Steffi, dein Schlusssatz hört sich an, als hättest du denn Beitrag nicht verstanden.
      Ich finde den deplatziert.

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