Lieblingsbuch: Frei und unverbogen

Es ist fast ein bisschen mutig in diesen Tagen – zwischen Homeschooling und Homeoffice, zwischen Isolation und „nie allein“ – einen Elternratgeber zu lesen. Viele Eltern kommen gerade an ihre Grenzen. Sie spüren, wie Stress, Angst und Sorgen die Einfühlsamkeit den eigenen Kindern gegenüber sinken lässt. Auch bei uns reicht die Energie gerade eher nur noch, jeden Morgen ein Blatt vom Juul-Familienkalender abzureißen und nickend den zitierten Impuls für den Familienalltag zur Kenntnis zu nehmen.

Würde ich mich nach der Lektüre des Buches von Susanne Mierau vielleicht also noch ein bisschen schlechter fühlen, weil sich das Leben für unsere Kinder gerade so gar nicht „Frei und unverbogen“ anfühlt? Angesichts all dieser aktuellen Einschränkungen und der emotionalen Überforderung auf allen Seiten?

Doch schon in der Einleitung wird nicht belehrt, sondern gefragt. Gefragt, an welcher Stelle man als Familie und individuell gerade steht. Wie wichtig genau dies ist, weiß ich aus meiner Hebammenarbeit. Ein Fragebogen hilft bei der eigenen Reflexion. Und diese Idee zieht sich auch durch das ganze Buch. Statt „Kochrezept“ geht es um den wirklichen Erkenntnisgewinn, wie der Weg für mich und meine Familie aussehen soll.

Ratgeber erzeugen oft Ratlosigkeit

Die Autorin bringt zunächstmal einen Überblick in den Erziehungs- und Unerzogen-Dschungel. Es geht nicht nur darum, welchen Weg wir für unser Kind als sinnvoll betrachten. Es geht auch darum, wie und wovon unsere eigene Kindheit geprägt war. Gerade in schwierigen Situationen greift man auf erlernte Muster zurück.

Alle Eltern paraphrasieren irgendwann den eigenen Kindern gegenüber Sätze, die sie selbst schon in der eigenen Kind dämlich fanden. Statt Selbstvorwürfen können solche Situationen eine Einladung sein zu reflektieren, welche Eigenerfahrungen aus der Kindheit uns bis heute prägen. Und welche den Wunsch wecken, es „besser“ oder einfach anders zu machen. Wie schreibt Susanne Mierau so passend:

„Ratgeber erzeugen oft Ratlosigkeit, weil sie Eltern einen sicheren Erfolg versprechen, den es so sicher gar nicht geben kann oder weil sie die für die Erziehungsarbeit so notwendige Reflexionsarbeit zwar aufgreifen, aber inmitten von Schuldzuweisungen und pauschalen Problemlösungsstrategien vergraben.“

Auch wenn sich dieses Buch im Buchhandel sicher bei den Elternratgebern platziert wird, ist es eben genau das nicht. Vielmehr begleitet die Autorin Eltern dabei, ihren Weg und ihre Werte im Umgang mit den eigenen Kindern zu entwickeln. Gleichzeitig gibt sie viele wertvolle Impulse, warum es dringend eine „Erziehungsreform“ braucht. Unsere Kinder werden andere, sehr große Herausforderungen zu bewältigen haben als die Generationen davor. Die Zukunft kann nicht von Menschen gestaltet werden, die egoistisch ihre eigenen Ziele verfolgen. Es müssen Lösungen in Gemeinschaft und mit Empathie für andere und für unseren Planeten gefunden werden.

Wie eine friedvolle Elternschaft gelingen kann

Susanne Mierau beleuchtet die Vergangenheit und analysiert den Ist-Zustand, in dem die Kindheit und das Elternsein stattfindet. Und sie lädt immer wieder zur Selbstreflexion ein. Das öffnet einem an vielen Stellen die Augen, ist aber nie anklagend, wenn es zum Beispiel um das Thema elterliche Macht geht. Die Fallbeispiele, die sich durch das Buch ziehen, ergänzen Themen wie „Angst als Erziehungsmittel“, „Überwachung“, „Diskriminierung“ oder „Belohnung“ gut.

Während die ersten drei Kapitel Herausforderungen und Probleme beschreiben, wird im Kapitel „Die Aufgaben der Eltern“ beleuchtet, wie eine friedvolle Elternschaft gelingen kann. Wenn sich der Blick auf die Kinder verändert, verändert sich auch viel im Familienalltag. Und auch in der Gesellschaft. Wie Kinder wirklich sind und was sie brauchen, erklärt Susanne schon seit über neun Jahren auf ihrem Blog Geborgen wachsen in zahlreichen Blogebeiträgen. In „Frei und Unverbogen“ sind im letzten Kapitel die wichtigsten Punkte auf gut 50 Seiten noch mal komprimiert zusammengefasst.

Ich habe das Buch in einem Rutsch durchgelesen oder zumindest in den vielen kleinen Rutschen hintereinander, die der Homeschooling-Alltag zulässt. Und jetzt werde ich es noch mal, so wie den eingangs erwähnten Familienkalender, Seite für Seite langsam lesen und die wertvollen Impulse wirken lassen. Das ist gerade in diesen besonders anstrengenden Zeiten wertvoll. Die Begleitung unserer Kinder über viele, viele Jahre wird uns immer wieder herausfordern. „Frei und unverbogen“ kann man immer wieder zur Hand nehmen, wenn das Familienleben ruckelt. Es hilft Eltern, eine Haltung den Kindern gegenüber zu entwickeln, die auf Empathie und Gleichwürdigkeit basiert – egal, ob das Kind gerade drei oder dreizehn Jahre alt ist.

Frei und unverbogen
von Susanne Mierau
Beltz Verlag
273 Seiten, 18,95 Euro

Die vorgestellten Lieblingsbücher sind ganz persönliche Empfehlungen, die uns gefallen und die sich bewährt haben. An dieser Stelle gibt es keine Produkttests oder gesponserte Beiträge. Diese sind wie gewohnt immer offiziell gekennzeichnet. Der Text enthält Affiliate-Links.

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