Attachment Parenting oder um was es eigentlich geht

Derzeit ist in der kleinen Eltern-Internet-Welt mal wieder die große Frage entfacht, wie denn nun der Masterplan in Sachen Kinderbegleitenerziehenwachsengroßwerdenlassen aussieht. Die Diskussion ging aus von einem Artikel, in dem eine Mutter berichtete, dass sie das Konzept Attachment Parenting an ihre Grenzen und darüber hinaus gebracht hat. Primär hatte sie nur die Bedürfnisse ihrer Kinder im Blick und sich selbst ganz vergessen dabei.

Solche Mütter erlebe ich als Hebamme auch – und vor allem kenne ich solche Phasen selbst als Mutter. Da steigert man sich in irgendeine scheinbar tolle Idee hinein und merkt vielleicht etwas spät, dass das so nicht funktioniert, wie man es sich vorstellt oder wie man es verstanden hat. Ich würde so manche Dinge nicht mehr oder anders machen, als ich sie vor allem beim ersten Kind noch gemacht habe. Zum Beispiel würde ich nicht mehr mit einer Riesentasche Strickbindewindeln in den Urlaub fahren, nur um dem Baby auf keinen Fall eine Wegwerfwindel „zuzumuten“. Und um dann den ganzen Tag Windeln auszuwaschen und mit dem Föhn zu trocknen, anstatt einfach Urlaub zu machen…

Das Attachment Parenting so viel mehr bedeutet als Tragen, Stillen und Familienbett und mit Stoffwindeln eigentlich gar nicht so viel zu tun hat, wurde im Zuge der aktuellen Diskussion schon an vielen Stellen erklärt. Genauso wie die Pädagogik nach Emmi Pikler auch mehr ist, als dass die Babys mit geflochtenem Korbbällen spielen oder sich später an kleinen Sprossendreiecken hochziehen. Doch manchmal verlieren wir Eltern uns einfach auch ein bisschen in dem Drumherum, während wir noch auf der Suche nach dem Weg sind, der am besten zu unserer Familiensituation passt.

An erster Stelle das Gefühl, geliebt und willkommen zu sein

Wenn es Eltern an dieser Stelle nicht mehr gut geht, hat es also meist eher wenig mit einem bestimmten Erziehungskonzept zu tun, sondern oft mit einem überhöhten Perfektionsanspruch. Und der ereilt doch relativ viele Mütter. Egal ob Stillen, Tragen und Familienbett oder Fläschchen, Kinderwagen und frühe Rückkehr in den Beruf den Familienalltag begleiten. „Diese“ Mütter und ihre Tendenz, nicht gut genug auf sich zu achten oder vielleicht zu verbissen an etwas festzuhalten, gibt es über alle Familienmodelle und Erziehungskonzepte hinweg.

Als Hebamme durfte ich in den letzten Jahren viele verschiedene Familien kennenlernen. Ich habe einen kleinen Einblick in ihren Alltag bekommen. Sie alle waren verschieden und doch einig in dem Wunsch, das Beste für ihr Kind zu wollen. Zum Glück gab es in meinem Berufsleben nur ganz wenige Situationen, in denen Eltern derart belastet waren, dass dies nicht mehr der Fall war. Doch was letztlich das Beste ist, kann ohnehin niemand genau sagen. Auch die vermeintlichen Fachleute nicht. Was Kinder brauchen, lässt sich indes leichter benennen. Neben den vielleicht eher körperlichen Bedürfnissen nach Nahrung, Wärme, Sauberkeit und Nähe steht wohl bei den emotionalen Bedürfnissen an erster Stelle das Gefühl, geliebt und willkommen zu sein.

Und auch große Menschen möchten sich geliebt und willkommen fühlen. Eltern wünschen sich zudem Anerkennung und positive Rückmeldungen für ihr Tun. Sie brauchen auch mal Pausen, Zeit für sich und andere nette Menschen, mit denen sie gerne zusammen sind. Das klingt nicht kompliziert, kann aber gerade in der Babyzeit zu einem Problem werden.

Konzepte, Experten, Produkte

Es ist so einfach und doch so schwierig. Und deshalb sind wohl alle auf der Suche nach etwas, an dem man sich in der aufregenden Zeit der Elternschaft festhalten kann. Es sind Konzepte, Experten, Produkte oder andere Dinge. Dabei kann die Feststellung, dass das Baby trotz Tragen, Stillen und ständiger Nähe trotzdem untröstlich weint, genauso frustrierend sein wie die Erkenntnis, dass das Kind in der als so hilfreich angepriesenen und teuren Federwiege überhaupt nicht schlafen mag.

Stillen kann wundervoll sein, aber auch eine einzige nicht endend wollende Odyssee aus Schmerzen und Pumperei. Dazu gesellt sich vielleicht noch die wirklich sehr belastende Sorge, ob das Baby gut genug gedeiht. Letztlich ist in Sachen Elternwerden und Elternsein nichts planbar. Manches ist vorab nicht mal ansatzweise vorstellbar. Bei uns persönlich hat es zwar letztlich insgesamt gesehen alles ganz gut geklappt mit dem Gebären, Stillen, Tragen und Tralala.

Und doch gab es Herausforderungen, mit denen wir nicht gerechnet hätten. Die haben uns auch immer wieder mal an persönliche Grenzen gebracht. Aber es lief und läuft alles so weit rund oder wir hatten das Glück in dem Moment, die passenden Unterstützer an unserer Seite zu haben, so dass aus kleineren Sorgen letztlich keine riesengroßen Probleme wurden. In meiner kleinen Blase könnte ich also leicht denken, dass das von uns gelebte Konzept auch für alle anderen so ganz gut funktionieren müsste. Das tut es aber natürlich nicht. Diese Erkenntnis habe ich vor allem durch meine Arbeit gewonnen. Ich bin dankbar, dass ich in vielen Familien sehen durfte, dass es doch so ganz anders aussehen kann – und trotzdem gut ist.

Eltern verstricken sich in oft so sinnlose Diskussionen

Und manchmal ist es wirklich sowas von egal, ob und womit und warum oder warum nicht getragen, gestillt oder wie auch immer geschlafen wird. Nämlich immer dann, wenn das Leben manchen Eltern ganz besondere Herausforderungen schickt. Wenn Kinder krank oder zu früh geboren werden. Wenn Eltern ihr Kind noch in der Schwangerschaft verlieren. Oder wenn das Leben ihres Babys hier nur auf eine kurze Zeit beschränkt ist. Oder auch dann, wenn ein Vater plötzlich allein mit seinem Baby dasteht, weil er gerade seine Frau und das Kind seine Mama verloren hat. Es ist manchmal kaum aushaltbar, was das Leben für Herausforderungen an manche Familien stellt.

Dann spielt das, worüber sich Eltern gerne in oft so sinnlosen Diskussionen verstricken, überhaupt keine Rolle. Dann ist das wichtig, was doch die allermeisten Eltern eint: die Liebe zu ihrem Kind. Und der Wunsch die wertvolle Zeit mit der Familie zu verbringen. Es sind zum Glück selten erlebte Situationen und ich will deshalb auch nicht behaupten, dass es völlig egal ist, wie Eltern in einem hoffentlich unbelasteteren Alltag konkret mit ihrem Kind umgehen. Aber das endlose Diskutieren um dieses und jenes erscheint mir dann doch so oft so sinnlos.

Vielleicht ist es nur ein Ausdruck davon, dass wir uns als Eltern mit den vielen Möglichkeiten gerne auch mal ein bisschen überfordert fühlen. Wir können schließlich zwischen so vielen Wegen entscheiden. Aber letztlich bin ich auch oft dankbar, dass es uns hier doch so gut geht, dass wir dies überhaupt können. Denn wir werden dann gerade nicht von Krieg, Krankheit, Hunger und anderen existenziellen Sorgen geplagt. Wir haben Zeit und Raum, solche Diskussionen zu führen. Es wäre schön, wenn es statt verbalen Grabenkämpfen dadurch vielleicht auch einfach neue gute Impulse und Ideen gibt.

Habt sie lieb und sorgt gut für euch und eure Kinder

Also lese ich die vielen Pro- und Contra-Artikel zum Thema Attachment Parenting derzeit mit der Frage im Hinterkopf, um was es hier eigentlich geht. Es ist toll, dass die Eltern heute so viel reflektieren, was sie tun und wie sie gemeinsam mit ihren Kindern leben wollen. Aber manchmal macht einen das auch wahnsinnig. Und vielleicht müssen wir dann doch einfach auch mal wieder ein bisschen mehr aus dem Denken ins Tun kommen. Weniger lesen und mehr Zeit mit der Familie verbringen – auch wenn das natürlich als Autorin hier ein bisschen kontraproduktiv in eigener Sache ist, wenn ich das schreibe.

Warum fühlt sich das Familienleben mit drei, vier oder mehr Kindern manchmal leichter an, als mit einem Kind oder zwei Kindern? Vielleicht ist es der Tatsache geschuldet, dass weniger Zeit für die permanente Selbstreflexion und Selbstoptimierung bleibt. Das heißt nicht, dass es völlig egal ist, was man tut und sagt. Aber vielleicht wird man etwas gnädiger mit sich selbst – so wie es auch die Zeit als Eltern überhaupt mit sich bringt. Meine Erfahrung ist zumindest, dass jenseits der Baby- und Kleinkindzeit viel weniger um Dinge diskutiert und gestritten wird. Und vieles, was im Babyalter noch zur „Bewertung anderer Eltern“ herangezogen wurde, spielt überhaupt keine Rolle mehr. Etwa dann, wenn man im Schulalltag wieder ganz neue andere Eltern kennenlernt.

Also, so kompliziert ist das doch alles vielleicht gar nicht. Auch als in größten Teilen Befürworterin und Anwenderin von Attachment Parenting halte ich mich also eher aus der großen derzeitigen Diskussion heraus und „empfehle“ vielleicht einfach ganz allgemein: „Seid nett zu euch und euren Kindern. Habt sie lieb und sorgt gut für euch und eure Kinder.“

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Autor.in dieses Beitrags

Beitrag veröffentlicht am

in

,

Von

Buchempfehlungen unserer Redaktion

Kommentare

5 Antworten zu „Attachment Parenting oder um was es eigentlich geht“

  1. J
    Jule

    Liebe Anja,
    herzlichen Dank für diesen Artikel. Du formulierst wie so oft sehr prägnant und gleichzeitig liebevoll und überlegt. Und du sprichst mir aus dem Herzen – meiner Meinung nach sind Dogmen in der Kindererziehung einfach fehl am Platz. Bedürfnisgerecht bezieht sich schließlich individuell auf das eigene Kind, und nicht auf die Umsetzung irgendwelcher Konzepte und abstrakter Ideen. Und vegane Ernährung oder Reboarder sind ja keine schlechten Sachen (ganz im Gegenteil!), haben aber mit attachment parenting im eigentlichen Sinne nichts zu tun… Wie dem auch sei, ich bin froh über deine ausgewogenen Beiträge, die vielen Anregungen und die Ermunterung, unsere Kinder zu genießen, wie sie (und wir) sind.

  2. J

    Ich finde einfach, dass man mit mütterlicher Intuition, viel Liebe und ein bisschen Verstand überhaupt nichts verkehrt machen kann. Dazu braucht es keine Erziehungslehren, Philosophien oder Bücher. Ich beobachte immer wieder, wie Eltern sich komplett in solchen Dingen verlieren, bis zu dem Punkt, dass ein Kind im Tuch getragen werden MUSS – komme was wolle – auch wenn es das gar nicht gut findet und dabei immer weint. Etwas locker lassen, sein Kind beobachten, auf sein Bauchgefühl hören – das zählt.

    Danke für deinen sehr schön geschriebenen Artikel!

    Liebste Grüße
    Julia

  3. L
    Luisa

    Ich dachte im Zuge dieser ganzen Diskussion auch nur: hört doch mal auf euch eure Konzepte bzw. die Ablehnung dieser gegenseitig um die Ohren zu hauen und hört einfach auf euer Herz/auf euren Instinkt. Ich lasse meinen Sohn z.B. wirklich nur dann bei mir mit im Bett schlafen, wenn ich selbst Lust darauf habe (was ziemlich oft der Fall ist, zugegeben, aber eben nicht jede Nacht). Ich habe ihn fast von Geburt an immer mal für ein paar Stunden abgegeben (so gut das eben ging mit einem vollgestillten Baby), weil es mir wichtig war, dass ich selbst nicht zu kurz komme und sowohl genügend Schlaf als auch mal ein wenig Abwechslung vom Babyalltag bekomme. Ich habe ihn viel getragen und tue es immernoch, aber nicht rund um die Uhr, auch nicht in den ersten Wochen nach der Geburt, weil mir eben einfach manchmal nicht danach war. So what? Ihm geht’s gut, mir geht’s gut, wir haben ein sehr entspanntes Verhältnis.

  4. M
    maxmix

    Mal wieder ein wirklich großartiger, undogmatischer Artikel, danke dafür! Ich glaube der Druck auf vielen Eltern ist unheimlich groß. Der, den sie sich selbst machen und der, den sie von „den anderen“ oder einfach insgesamt zu spüren glauben. Egal ob es diesen Druck wirklich gibt, sie spüren ihn, also ist er für sie real. Der Druck, es richtig machen zu wollen. Und aus diesem Druck heraus sucht man fieberhaft nach einem Konzept, das einen anleitet und zumindest ein bisschen verspricht, dass man damit schon alles richtig macht. Und strukturiert wie wir heute alle sind, versucht man dann, möglichst viel aus diesem Konzept umzusetzen. Und vergisst vielleicht darüber, erstmal zu schauen, was denn überhaupt für die eigene Familie passt. Auch ich ertappe mich natürlich bei diesen Dingen. Habe gestern einen tollen Artikel über aktives Zuhören gelesen, natürlich gleich versucht, das anzuwenden – und sofort gemerkt: Also jetzt gerade ist das Kind da gar nicht scharf drauf. Zwei Stunden später: Kind nölt rum, ich müde und gestresst, da wäre aktives Zuhören gut gewesen, aber ich hatte einfach weder die Energie noch die Zeit. Zack, schlechtes Gewissen, weil EIGENTLICH habe ich ja gelesen, wie es richtig geht. Und schon fühlt man sich doof. Aber Konzepte sind eben Konzepte, Theorien funktionieren in der Theorie, in der Praxis dann nicht immer. So ist das eben, das Leben und das Eltern sein. Man kann nur versuchen, es so gut wie möglich zu machen, d.h. wie es eben von den Energieressourcen grade geht. Und wenn mal ein Tag rum ist, der voller Gebrüll (die Kinder) und Geschrei (ich) war, dann ergibt sich vielleicht abends ein netter Moment, wo man die ganze schlechte Laune wegkuscheln kann. Und wenn nicht, dann eben nicht, dann kommt ein neuer Tag. Mit neuer Chance, es heute anders zu machen. Auch ich empfinde es als entspannend, je mehr Kinder da sind. Es wird anstrengender, aber was dieses Konzept-Leben-Lesen-Nachdenken-rumhirnen betrifft wird es leichter. Weil man pragmatischer wird, werden muss, um den ALltag zu bewältigen. Ich habe einfach keine Energie und Zeit, mich durch Erziehungsratgeber zu wühlen, neben Partnerschaft, Kindern, Arbeit und Haushalt. Ich mache wie ich denke. Ab und zu gehts prima, ab und zu nicht. Manchmal bin ich auf einer Welle mit den Kindern, mit mir, mit dem Partner. Oft aber auch nicht. Aber solange das immer wieder ist, reicht mir das. Was ich noch entspannter finde mit Kinder(n): Man kreist weniger um sich selbst, und zwar im Sinne von weniger nachdenken, wie was wer will ich sein, dieses egozentrische, das auch anstrengt in dieser selbstverwirklichungspflichtigen Welt, das hat sich erledigt für mich. Ich weiß wo ich stehe und was ich mache und was andere denken ist mir wurscht, hauptsache uns geht es gut miteinander. Vielleicht verschiebt sich diese Selbstperfektionierung und Optimierung aber bei vielen von sich selbst auf die Erziehung des Kindes und das ist dann eben genau gleich anstrengend wie vorher, nur dass das Kind als variable auch noch dazukommt. Alles nicht so einfach und eigentlich doch, genau wie du schreibst: weniger nachdenken und lesen, mehr tun und vor allem: Weniger Druck, mehr Liebe! Danke für diesen Artikel!

    1. R
      Romy

      Ich glaube das ist das erste Mal, dass ein Internetkommentar hundertprozentige Zustimmung von mir erfährt. Weitermachen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert