Füreinander sorgen: Der Kern unseres Zusammenlebens ist das Miteinander

Seit zehn Jahren durch das Schreiben über Elternthemen verbunden schauen Susanne Mierau und ich nicht nur gemeinsam dem Wachsen unserer Kinder zu. In dieser Zeit sind auch die Themen stets gewachsen, über die Susanne als erfolgreiche Autorin in ihren Büchern schreibt. Schon häufiger dachte ich in den letzten Jahren, dass das neue Buch jetzt Susannes wichtigstes Buch ist. Doch diesen Stempel bekommt nun ihr neustes Buch von mir.

Susanne hat anfangs vor allem darüber geschrieben, was Babys und Kinder brauchen. Und was Eltern brauchen, damit sie die Bedürfnisse ihrer Kinder und ihre eigenen erfüllen. Doch bei besten elterlichen Absichten kommen wir nur allzu schnell wieder an Grenzen. Grenzen, die systembedingt sind. Besonders die letzten Jahre mit den gravierenden Auswirkungen der Pandemie auf Familien und Care-Berufe haben das noch mal deutlich gezeigt.

Susanne Mierau lenkt in ihrem neuem Buch „Füreinander sorgen“ eindringlich den Blick auf ein System, das es Eltern aber auch allen anderen fürsorgenden Menschen schwer macht, ihre Care-Arbeit unter guten und würdigen Bedingungen ausführen zu können. Ich durfte Susanne vorab ein paar Fragen zum Buch und ihrer Motivation stellen.

Susanne, du hast ein neues Buch geschrieben mit dem Titel „Füreinander sorgen”. Darin geht es um die Care-Krise. Im Hebammenbereich sind wir schon lange in einer Krise der Betreuung von Gebärenden und der Arbeitsbedingungen von Hebammen. Aber du meinst mit der Care-Krise sicher ein noch größeres Spektrum an Problemlagen, die sich quasi durch die ganze Gesellschaft ziehen. Was genau macht die Care-Krise für dich aus?

Wir befinden uns in einer Krise aller Bereiche der Care-Arbeit. Sie betrifft die bezahlte Care-Arbeit von Hebammen, Erzieher*innen, Lehrenden, Pflegeberufen in Krankenhäusern, therapeutische Versorgung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen und der Pflege der alten Menschen. 

Insbesondere Mütter sind erschöpft

Daneben und in Verbindung damit steht die Krise der unbezahlten Care-Arbeit: Eltern und insbesondere Mütter sind erschöpft. Erschöpft von den letzten Jahren der Pandemie. Aber viele waren auch vorher schon erschöpft durch Elternschaft, die in unseren aktuellen Strukturen schwer gut zu bewältigen ist. Gerade mit dem Anspruch, dass wir unsere Kinder heute liebevoll und bedürfnisorientiert begleiten wollen – und es für diesen Anspruch auch gute und auch wissenschaftliche Gründe gibt – stehen wir aber einer Gesellschaft gegenüber, die uns genau das schwer macht.

Denn bedürfnisorientiertes Begleiten braucht Zeit und Ruhe. Zeit, um das Kind kennenzulernen und um Bedürfnisse zu beachten und nicht ständig unter Stress zu handeln. Zeit, um sich überhaupt damit zu beschäftigen, wie man das machen kann, wenn man nicht auf Belohnung und Bestrafung zurückgreifen will. Aber diese Zeit haben wir eigentlich nicht, weil wir ja leisten sollen, weil wir arbeiten müssen und oft Druck und Terminstress haben. Weil „Vereinbarkeit” eigentlich ein nebeneinander zwischen Erwerbsarbeit und Care-Arbeit meint, aber nicht ein Miteinander. Familien mit Kindern mit Behinderung stehen oft unter zusätzlichem Stress. Aber auch zu pflegende ältere Angehörige brauchen Zeit der Pflegenden, damit sie sich gesehen und verstanden fühlen. 

So, wie die bezahlte Care-Arbeit zu schlecht bezahlt wird, finden wir auch in der unbezahlten Care-Arbeit eine enorme finanzielle Ungerechtigkeit: Sie hält unsere Gesellschaft wesentlich mit am Laufen, wird aber nicht honoriert. Im Gegenteil: Die in der unbezahlten Care-Arbeit hauptsächlich tätigen Frauen sehen oft einer Altersarmut entgegen, da sie nicht ausreichend finanziell abgesichert sind. Das bringt weitere Probleme im Bereich von Care mit sich, auch für die folgende Generation.

Kinderarmut ist ein großes Thema

Die Care-Krise findet auch da statt, wo die Kindergrundsicherung immer weiter verschleppt wird: Kinderarmut ist ein großes Thema hierzulande: Jedes fünfte Kind lebt in Armut. Das hat umfassende und manchmal lebenslange Folgen. Hier muss der Staat Care übernehmen, ebenso wie für erwachsene, von Armut betroffene oder bedrohte Menschen.

Wir sehen also: Die Care-Krise zieht sich durch alle Bereiche unseres Lebens, durch alle Altersgruppen. Es ist ein riesiges Problem, das auf vielen Ebenen negative Folgen hat.

Welche Folgen hat diese gesamtgesellschaftliche Care-Krise?

Viele Eltern wissen mittlerweile, wie es sich anfühlt, wenn sie von der Care-Krise betroffen sind. Im Bereich Schwangerschaft und Geburt ist es schlimm, keine gute Begleitung zu haben: Viele Schwangere erleben bei der Geburt des ersten Kindes zum ersten Mal eine Geburt. Und sind verunsichert, brauchen Informationen, Zuspruch, Anleitung.

Hilfe für viel Geld buchen

„Wer es sich leisten kann und über ausreichende Informationen und Kontakte verfügt, kann sich eine Beleghebamme dazu buchen, die für eine 1:1-Versorgung unter der Geburt bereitsteht. Oder sogar eine Hausgeburt planen mit einer Hausgeburtshebamme. Freiberufliche Hebammen, die hierzulande selbst im schlecht bezahlten Care-Bereich tätig sind und freiberuflich nicht in einer Gewerkschaft organisiert sind, sind aufgrund der hohen Kosten für Haftpflichtversicherung, Abrechnungsdienstleister, Qualitätsmanagement, Mitgliedschaft im Berufsverband, sonstigen Kosten für Steuerberatung, Fortbildungen etc. bei gering bezahlten Abrechnungsleistungen der Hebammenordnung nur noch schwer zu finden.

Viele Hebammen quittieren nicht nur in der Klinik ihren Dienst als Angestellte aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen, sondern auch in der freiberuflichen Tätigkeit. Manche sind dazu gezwungen, sofern sie weiter als Hebamme tätig sein wollen, Privatpatient*innen anzunehmen oder kostenpflichtige Zusatzangebote zu machen.

Der Markt der teilweise von Quereinsteiger*innen ersatzweise angebotenen Unterstützung boomt: Wer keine Hebammenversorgung für das Wochenbett erhält, die normalerweise von der Krankenkasse übernommen wird, kann sich eine Wochenbett-Doula buchen, beispielsweise zu 700 Euro für 20 Stunden Haushaltshilfe mit Kochen, Putzen und Verwöhnen. Und wer keine Hebamme bei Stillproblemen findet, wofür eine Hebamme laut Gebührenordnung ein Honorar von 37,17 Euro berechnen kann, kann privat ein Stillberatungspaket zu 684 Euro für Online-Beratungen erwerben.

Gesundheitssystem in Schieflage

Dass es all diese Angebote gibt und sie von jenen in Anspruch genommen werden, die es sich leisten können, ist kein Fehler der Dienstleister*innen oder Nutzer*innen. Es zeigt uns, wie sehr das Gesundheitssystem in eine Schieflage geraten ist gerade in dem Bereich, der sich so nachhaltig auf Familiengesundheit und -entwicklung auswirkt.“

Eigentlich ist das Problem also sichtbar für alle. Warum passiert denn so wenig, warum ändert sich alles so schleppend?

 Auch das ist ein Teil der Krise: Dass wir viele sorgende Themen aus unserem Alltag ausgeklammert haben, ins Private gedrängt haben und dann kaum noch etwas „natürlich“ im Sinne von bekannt ist. Wir wissen ja oft nicht aus unserem Umfeld heraus, wie Geburt stattfindet. Dass es normal ist, dass dabei Kot abgehen kann oder dass viele Frauen dabei laut werden. Wir wissen nicht, wie wir Babys sicher halten, was wir bei einem Kleinkind-Wutanfall machen müssen und wie man Kindern beibringt, dass Oma gestorben ist. 

Die Folgen der Care-Krise müssen wir auf verschiedenen Ebenen betrachten: Auf Seiten der Sorgenden führt sie zu Erschöpfung bis zum Burnout. Wir sprechen heute über den Begriff „Caregiver-Burnout“, dessen Symptome sehr ähnlich sind zu einem anderen Burnout. Der „Caregiver-Burnout“ hat aber nicht „nur“ negative Folgen für die ausgebrannten Sorgenden, sondern auch für die Umsorgten: Sie können nicht mehr ausreichend versorgt werden. Stress wirkt sich negativ auf Erziehungsverhalten aus, wir sind gereizter, weniger empathisch, weniger positiv gegenüber den Kindern. Das wirkt auf ihre Psyche und ihr Selbstbild.

Kinder werden ausgelagert

Die negativen Strukturen des Aufwachsens wirken aber auch zusätzlich direkt auf Kinder: Unsere Alltagsstrukturen sind oft nicht kindgerecht, beispielsweise werden Kinder gerade in großen Städten in ihrer Motorik eingeschränkt: Hier sind die Straßen zu gefährlich zum Toben, da darf der Rasen nicht betreten werden, auf dem Spielplatz sind sie unter Dauerüberwachung durch viele andere Eltern, die ihnen nicht immer Raum geben, um sich sozial miteinander zu erproben.

Öffentliche Räume sind – wieder aufgrund der Auslagerung von Kindern ins Private – kinderunfreundlich: Kinder werden als störend, laut, wild wahrgenommen, weil viele Menschen gar nicht mehr wissen, wie ganz normales, altersangemessenes kindliches Verhalten aussieht.

Kinder werden ausgelagert, haben eigene Inseln des Kindseins: Krabbelgruppe, Spielplatz, Kita, Schule. Dort sind sie größtenteils in altershomogenen Gruppen. Das entspricht aber eigentlich auch nicht ihrem Bedürfnis nach sozialem Miteinander und sozialem Lernen und wirkt sich auf ihre Entwicklung aus. Ein schlechter Betreuungsschlüssel in der außerfamiliären Begleitung und die homogenen Gruppen wirken auf ihre soziale Entwicklung, beispielsweise die Empathiefähigkeit. 

Drei Säulen der Bearbeitung

Die Anthropologin Sarah Blaffr Hrdy hat in einem ihrer Bücher erklärt, dass wir noch gar nicht genau wissen, wie sich diese falschen Strukturen langfristig auswirken werden. Aber wir rücken immer weiter davon ab, was wir eigentlich brauchen als Homo Sapiens. Und dies wirkt sich darauf aus, wie wir uns verhalten und wie wir Gesellschaft gestalten. Es ist ein negativer Kreislauf, den wir durchbrechen müssen.

Aber wir kommen wir denn da heraus aus dieser Krise? Viele Eltern sind hoffnungslos, auch Studien der vergangenen Jahre zeigen, dass das Vertrauen insbesondere von Müttern in die Politik gesunken ist. Ist es zu spät, um noch etwas zu verändern?

Wir müssen sehen: Der Kern unseres Zusammenlebens ist das Miteinander. Das Bindungssystem macht uns aus und hängt auch zusammen mit unserem Motivationssystem. Darauf müssen wir uns besinnen. Es wäre schön, sagen zu können: Also wir müssen jetzt diese Schritte machen und dann ist alles wieder im Lot. So einfach ist es leider nicht. In meinem Buch setze ich an drei Säulen an, die wir bearbeiten müssen: das Selbst, das alltägliche Miteinander und das gesellschaftliche Miteinander. 

Jede dieser Säulen ist bedeutsam für eine Veränderung. Manche können wir im Kleinen aktiv angehen, beispielsweise indem wir unsere Netzwerke bewusst ausbauen und mehr gemeinsam erledigen, mehr miteinander kooperieren, mehr andere sehen und auch selbst mit unseren Bedürfnissen gesehen werden. Aber neben allem persönlichen Engagement braucht es eben politische Veränderungen. Diese ergeben sich leider nicht von allein. Auch hier müssen wir zusammenkommen und dann gemeinsam gegen die aktuellen Probleme aufbegehren. Ich halte dafür einen umfassenden Care-Streik für notwendig.

Demonstrationen und Konsum-Boykott

Es wird zwar oft gesagt, dass Sorgende eben nicht streiken können. Ich halte das aber für ein Narrativ, das uns genau davon abholen soll: Wir können durchaus Streikstrukuren erschaffen, in denen wir Sorgenden streiken können – je nach persönlicher Möglichkeit: angefangen bei Demonstrationen, über Plakate an den Fenstern, privaten Sit-ins mit Babys und Kindern bis hin zum Konsum-Boykott an bestimmten Tagen, um zu zeigen, welche Kaufkraft hinter den Sorgenden steht.

Wir sind gemeinsam wirklich viele Menschen in der bezahlten und unbezahlten Care-Arbeit.  Wir müssen uns zusammentun, um die aktuellen Strukturen zu verändern – auf ganz persönlicher Ebene zusammentun, aber auch auf gesellschaftlicher. 

Füreinander sorgen – Warum unsere Gesellschaft ein neues Miteinander braucht

Von Susanne Mierau

Rowohlt Verlag

256 Seiten, 18 Euro

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