Hilfe, ich versteh mein Baby nicht

Bei vielen Hausbesuchen im Wochenbett oder in der Stillberatung begegnet mir die Sorge von Eltern, dass sie ihr Baby nicht verstehen. Es ist die Sorge von Eltern, die die Feinzeichen ihres Kindes angemessen beantworten, wie ich bei unserem Termin beobachte. Aber da ist vielleicht das Baby, das gerade in dem Moment nicht stillen möchte, Das sich von der Brust abwendet. Oder es zeigt mehr oder weniger laut, dass ihm eine Position oder irgendwas anderes im Babyleben gerade nicht gefällt.

Viele Eltern haben aber eine immens hohe Erwartung, immer wissen zu müssen, was das Kind gerade hat und will. Sollten sie es nicht wissen, so die Annahme, dann müssen doch Fachpersonen wie die Hebamme das Baby besser lesen können. Nicht selten werde ich dann zum Beispiel gefragt: „Meinst du, dass das noch Hunger ist?“ Ja, ich erkläre und zeige Eltern nach der Geburt die möglichen Feinzeichen, mit denen Neugeborene signalisieren, dass sie gestillt werden möchten. Aber auch bei diesen Feinzeichen gibt es eine beachtliche Individualität. Und so lässt sich nicht eben immer alles 1:1 aus dem „Baby-Lese-Buch“ auf das eigene Kind übertragen. Meist schlage ich dann vor, es einfach auszuprobieren. 

Und ganz oft gilt es im Leben mit Kindern auch noch weit über die Babyzeit hinaus, dass die vermeintlich angemessene Antwort auf das kindliche Signal einfach ausprobiert werden muss. Sogar wenn unsere Kinder längst gut verständlich sprechen, werden wir sie so manches mal trotzdem nicht verstehen. Weil sich das Gesagte nicht mit ihrem eigentlichen Bedürfnissen deckt. Selbst im Teenager-Alter liegen wir als Eltern immer noch erstaunlich oft daneben und denken: „Ich verstehe mein Kind nicht!“ 

Manche Feinzeichen sind gut lesbar

Im Babyalter sind die elterlichen Erwartungen an die eigene Leistung oft viel zu hoch. Vorbereitet durch Kurse, Bücher und endlose Informationen aus dem Netz hoffen wir, für jede Situation gewappnet zu sein. Videos haben uns doch schließlich gezeigt, wie man die Signale des Säuglings versteht und liest. Die Hebamme im Geburtsvorbereitungskurs hat alle frühen Still- und Hungerzeichen erklärt. Der Babyzeichensprache-Kurs ist vielleicht schon gebucht. Und dann kommen sie trotzdem, diese Tage, an denen man einfach nur denkt: „Hilfe, ich verstehe mein Baby nicht!“

Weil es nicht schläft, isst, unruhig oder quengelig ist oder untröstlich weint. Mal lassen sich ein beginnender Schnupfen oder unangenehm im Kiefer drückende Zahnspitzen als Ursache für den Babyunmut finden. Ganz oft werden wir aber auch nicht wissen „was es denn hat“. Auch die Hebamme oder der Kinderarzt nicht, wenn gesundheitliche Probleme ausgeschlossen wurden. Ob das untröstbare Baby an Gebärmutterheimweh, Weltschmerz, Überreizung oder Anpassungsschwierigkeiten im Bäuchlein leidet, wird am Ende niemand abschließend sagen können.

Während bestimmte Feinzeichen zum Beispiel bei Müdigkeit recht gut lesbar sind, lässt gerade das Schreien sehr viele Interpretationsmöglichkeiten offen. Ich finde es wichtig, genau das auch den Eltern zu sagen. Sie sollen sich auch in diesen Situationen als kompetent und handlungsfähig wahrnehmen. Sie sollen nicht denken, sie hätten sich nur nicht genug vorbereitet oder drei Bücher über Entwicklungssprünge zu wenig gelesen. 

Vieles lernt man erst mittendrin

Und dann gilt es gemeinsam zu überlegen, was hier vielleicht noch ausprobiert werden kann, um die Situation für das Baby und damit auch für die Eltern zu verbessern. Mal ist es eine andere Stillposition oder einfach nur die Ermutigung das auszuprobieren, was den Eltern gerade einfällt. Denn schließlich kennen sie dieses kleine Menschlein so viel länger und intensiver als jede Hebamme, Kinderärztin oder andere vermeintliche „Babyprofis“. Manchmal ist es auch „nur“ das Halten und Aushalten, was Eltern in dem Moment konkret für ihr Kind tun können. Weil das die herausforderndste Aufgabe ist, muss hier immer gut geschaut werden, wie Eltern selbst dafür genug Halt für und in sich finden.

Es ist generell gut und sinnvoll, wenn sich Eltern vorab mit den Bedürfnissen von Babys beschäftigen, gerade wenn sie vielleicht mit ihrem eigenen Kind das erste Mal ein Baby im Arm halten. Die meisten sind nicht unbedingt mit vielen kleinen Geschwistern oder zahlreichen Kindern im Familien- und Freundeskreis aufgewachsen. Ihnen fehlt womöglich ein soziales Lernen für den Umgang mit Babys. Aber vieles lernen wir als Eltern auch einfach erst, wenn wir längst mittendrin sind.

Es braucht Zeit, sich als Eltern einzugrooven und das eigene Baby kennenzulernen. Selbst wenn man es dann schon ganz gut kennt, kommen die Tage, an dem man nicht versteht, was es hat. Es wird sich auch keine konkrete Anleitung für dieses Kind finden lassen, denn es ist ein Individuum von Anfang an. Auch schon erfahrene Eltern erleben, dass mit dem nächsten Kind wieder ein komplett neuer anderer kleiner Mensch zu ihnen gekommen ist. Nicht genau zu wissen, was ein Kind jetzt gerade hat, ist kein Hindernis, dennoch feinfühlig zu reagieren und entsprechende Angebote zu machen.

Aber für diese feinfühlige Antwort ist es wichtig, nicht noch mehr Stress in die Situation zu bringen. Ein „Was hat es denn?“ oder „Ich glaub, es hat Hunger“ von Fremden, wenn das Baby an der Kasse im Supermarkt untröstlich weint, ist also das Gegenteil von hilfreich. Eltern in der Situation vorzulassen oder vielleicht zu helfen, die Einkäufe schnell einzupacken, hingegen schon. Feinfühligkeit in der Kommunikation und im alltäglichen Miteinander ist für kleine und große Menschen gleichermaßen wertvoll.

Autor.in dieses Beitrags

Beitrag veröffentlicht am

in

,

Von

Buchempfehlungen unserer Redaktion

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert