Momentan warte ich auf ein Baby, dessen errechneter Geburtstermin schon um ein paar Tage verstrichen ist. Primär warten natürlich die werdenden Eltern, die ich vor und nach der Geburt betreue, auf ihr Kind. Aber uns Hebammen bleibt letztendlich auch nur der ET zur ungefähren Planung von Arbeit und Privatleben. Werdende Eltern lernen mit als erstes, dass die Abkürzung ET nicht für „Extra Terrestrial“ steht, sondern „Errechneter Entbindungstermin“ heißt.
Und da fängt der Stress schon an, denn an diesem Termin kommen nur etwa vier Prozent der Kinder zu Welt. Bestimmt wird dieser durch eine Rechenregel, die sich an der letzten Periode orientiert, wenn die Frau diese auch sicher angeben kann. Allzu oft wird aber vergessen nachzufragen, ob der Zyklus länger oder kürzer ist, was zu anderen Ergebnissen führt als der „Geburtshilfelehrbuchzyklus“ von 28 Tagen.
Via Frühultraschall lässt sich der ET zwar recht genau einkreisen, wobei sich durch Messen der Scheitel-Steißlänge des Embryos der ET auch „nur“ bei 95 Prozent der Schwangeren auf plusminus fünf Tage festlegen lässt. Genau ist anders, aber relevant wäre das ja auch nur bei einer möglichen Terminüberschreitung. Aber dann sind fünf Tage mehr oder weniger schon entscheidend, um eventuellen zu frühen Einleitungsmaßnahmen zu entgehen. Also scheinbar kein besonders verlässliches Datum, dieser ET.
Trotzdem kreisen zum Ende der Schwangerschaft Eltern und auch die Geburtshelfer sehr um diesen Termin. Wie viel entlastender wäre es stattdessen, den errechneten Geburtszeitraum anzugeben… Das sind nämlich die drei Wochen vor und die zwei Wochen nach dem errechneten Termin. Dann gelten Kinder nicht mehr als frühgeboren bzw. spricht man erst 14 Tage nach dem ET tatsächlich von einer Übertragung. Davor wäre die „Überschreitung des errechneten Geburtstermines“ die korrekte Bezeichnung.
Wenig bis gar nicht planbar
Für geburtshilflich arbeitende Hebammen ist das jedenfalls der Zeitraum, in dem sie in Dauerrufbereitschaft leben und mit dem Handy am Ohr ins Kino gehen, keinen Alkohol mehr trinken können, den Wohnort nur noch in kurzen Distanzen verlassen, für die Kinder ein Standby-Babysitter organisiert sein muss und der Nachtschlaf jederzeit unterbrochen werden könnte. Und das alles für 7,14 Euro brutto pro Tag, wenn man von einer durchschnittlichen Rufbereitschaftspauschale von 250 Euro ausgeht, die bisher auch nur von einigen wenigen Krankenkassen übernommen wird. Aber das ist noch mal ein anderes Thema…
Aber auch ohne Geburtshilfe wäre es natürlich sehr praktisch zu wissen, wann das Baby genau kommt. Wann also das Frühwochenbett beginnt, in dem in der Regel tägliche Hausbesuche stattfinden – auch am Wochenende und an sämtlichen Feiertagen. Da kann man die Betreuungen noch so schön verteilt auf einen ganzen Monat angenommen haben und plötzlich bekommen doch alle sechs Frauen innerhalb von zwei Tagen ihre Kinder. Sie sind somit etwa zum gleichen Zeitpunkt nach der Geburt wieder zu Hause. Die Blutentnahme für den Stoffwechseltest beim Neugeborenen, der Milcheinschuss, die Heultage und andere Faktoren, die für längere Hausbesuche sorgen, finden demnach auch zeitgleich statt. Und wieder einmal stellt man fest, dass man in diesem Beruf einfach wenig bis gar nix planen kann.
Deshalb müsste ich doch also bestens gewappnet gewesen sein für die Geduldsprobe “eigene Schwangerschaft”. Nun, Hebammengeduld und mütterliche Geduld sind zwei paar Schuhe. Und unsere erste Tochter hat mir netterweise jeglichen Terminstress erspart, in dem sie sich einfach zehn Tage vor dem ET auf dem Weg machte. Da hatte ich wirklich noch nicht mit ihr gerechnet und war dankbar, dass der Blasensprung dann doch im heimischen Badezimmer passierte und nicht fünfzehn Minuten später auf der geplanten Fahrt mit der überfüllten Tram zum Hackeschen Markt, wo ich mit einer Freundin verabredet war. Meine Familie warf mir übrigens damals vor, dass ich mit Absicht einen falschen Termin genannt hatte, als wir mitteilten, dass das Enkelkind „schon“ da sei. Hatten wir aber nicht, obwohl ich das eigentlich immer allen Eltern empfehle, um nicht in die Nachfragemühle zu geraten.
„1. gut, 2. nein, 3. weiß ich auch nicht“
Denn man kann als Schwangere „über ET“ noch so gelassen sein, diese ewige Fragerei macht einen wahnsinnig. Und auf einmal horcht man doch noch mal mehr in sich hinein, ob nicht dieses oder jenes Ziehen der Geburtsbeginn sein könnte. Die Appetitlosigkeit oder der schlechte Schlaf könnte doch auch darauf hinweisen… Und dann kommen noch die geburtshilflichen Experten, die aufgrund von Gesichtsfarbe, Stuhlgang und Gebärmutterhalsbeschaffenheit orakeln, dass das Kind ja sehr wahrscheinlich dann und dann käme. Mal ganz unter uns, keine Hebamme und auch kein Arzt kann das vorhersagen. Natürlich gibt es Befunde am Ende der Schwangerschaft, wenn sich zum Beispiel alles „schön weich, verkürzt und geburtsbereit“ tastet, die eher darauf hinweisen, dass es bald losgeht. Aber letztendlich kann auch die Frau mit dem „nicht so geburtsreifen Befund“ ihr Kind viel eher im Arm halten.
Während meiner Hebammenausbildung habe ich mein Externat in einem Geburtshaus gemacht. Dort haben wir eine Frau betreut, die einen schon knapp vier Zentimeter eröffneten Muttermund hatte – damit befinden sich die meisten Frauen wirklich unter der Geburt. Dieser Befund hielt sich eine ganze Woche, bevor die Mutter echte Geburtswehen bekam und sie ihr Kind zur Welt brachte. Alle Hebammen und auch die Frauenärztin lagen mit ihrer Annahme, die Geburt stünde unmittelbar bevor, weit daneben…
Fakt ist also, dass niemand vorhersehen kann, wann das Baby sich von selbst auf den Weg macht. Und ja, es ist eine große Herausforderung das auszuhalten, gerade wenn der errechnete Termin schon verstrichen ist. Kind zwei und drei haben da auch meine Geduld sehr auf die Probe gestellt. Gerade in der letzten Schwangerschaft ging es mir zwar bis zur Geburt körperlich sehr gut, aber man ist nun mal schwanger: bewegungseingeschränkter, kurzatmiger, müder, weniger belastbarer und so weiter. Der Sommer fühlte sich auch täglich wärmer an und das Unterhaltungsprogramm, dass ich meinen beiden Töchtern, die schul- und kitafrei hatten, bieten konnte, ging über Spieplatz und Eis essen auch nicht mehr weit hinaus. Acht Tage habe ich jeweils in diesem Wartezimmerzustand verbracht. Sämtliche persönliche Nachfragen, Anrufe, E-Mails und SMS in dieser Zeit konnte ich standardmäßig mit „1. gut, 2. nein, 3. weiß ich auch nicht“ beantworten. Beim ersten Kind kann man sich ja in dieser Wartephase noch etwas mehr einigeln, aber meine zwei aktiven Mädchen hätten dafür nur wenig Verständnis gehabt. So war ich also mehr unter fragenden Leuten, als mir lieb war.
Tee, Sex und Wehencocktails
Wie verlockend ist da der Gedanke, die Geburt ein bisschen anzuschubsen. Aber die ganzen Hausmittelchen wirken eh nur, wenn der Körper ohnehin geburtsbereit ist, sonst kann man auch literweise „wehenfördernde“ Tees trinken. Auch das im Sperma enthaltende Prostaglandin ist mengenmäßig bei weitem nicht ausreichend, um eine Geburt wirklich einzuleiten. Sex am Termin ist also nur zu empfehlen, wenn beide Partner Lust dazu haben und das ist der einzige Grund. Einleitungsmaßnahmen wie Wehencocktails oder Nelkenöltampons sind definitiv keine Selbsthilfemittelchen für den Hausgebrauch, sondern sollten immer nur in Absprache mit den jeweiligen Geburtshelfern angewendet werden.
Das gilt natürlich auch für alle medikamentösen Einleitungsmaßnahmen, die ohnehin nur in der Klinik stattfinden und medizinischen Indikationen vorbehalten bleiben sollten. Denn so eine Einleitung ist wahrlich kein Spaziergang und für den Geburtsverlauf ist es immer günstiger, wenn der Körper die Chance hat, von sich aus Wehen zu produzieren. Geburtseinleitungen können sich tatsächlich über mehrere Tage hinziehen, so dass die Mütter schon entsprechend erschöpft sind, bevor es zur wirklichen Geburtsarbeit kommt. „Keine Lust mehr auf Schwangersein“ oder „ein paar Tage drüber“ sind kein Grund, der Natur ins Handwerk zu pfuschen.
Leider ist sich auch die Medizinwelt nicht so ganz einig, wann denn nach dem ET nachgeholfen werden sollte. In den Berliner Kliniken und Geburtshäusern liegt die Bandbreite bei sieben bis vierzehn Tagen. Auch die Studienlage kommt da nicht zu einheitlichen Erkenntnissen. Darum sollte dies wohl immer individuell abgewogen werden. Engmaschigere Kontrollen nach dem Termin geben Auskunft darüber, wie es Mutter und Kind geht und wie die Versorgung durch den Mutterkuchen aussieht. Unter Einbeziehung all dieser Kriterien muss am Ende immer eine individuelle Lösung gefunden werden.
Das Warten auf die Geburt ist die erste große Herausforderung für Eltern in einer Zukunft, in der sich auf einmal vieles nicht mehr planen lässt, die aber auch mindestens genauso viele schöne, überraschende und ganz unerwartete Momente bereit halten wird. In den zwei Tagen, in denen ich immer wieder mal an diesem Artikel geschrieben habe, hat sich auch das eingangs genannte Baby auf den Weg gemacht und ist in den Armen seiner Eltern gelandet…
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